SIEBENUNDDREISSIG
»Na?« Ich lehne mich hinüber zu Ava, drücke die Ellbogen auf die Tischplatte und versuche, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, weg von den Attraktionen Saint-Germains.
»Ich weiß, dass ich Widder bin.« Sie zuckt die Achseln und lässt den Blick erneut von mir wegschweifen, zur Seine, dem Pont Neuf, dem Eiffelturm, dem Are de Triomphe und zu Notre Dame (die in dieser Version von Paris alle nebeneinander stehen).
»War's das?« Ich rühre in meinem Cappuccino und frage mich, warum ich ihn überhaupt bei dem comicfigurartigen Garcon mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart, dem weißen Hemd und der schwarzen Weste bestellt habe, da ich ja nicht die geringste Absicht habe, ihn zu trinken.
Sie seufzt und sieht mich an. »Ever, kannst du dich nicht einfach mal entspannen und die Aussicht genießen? Wann warst du denn das letzte Mal in Paris?«
»Noch nie«, sage ich und rolle derart mit den Augen, dass sie es unmöglich übersehen kann. »Ich war noch nie in Paris. Und es tut mir ja leid, dass ich dir das sagen muss, Ava, aber das hier...«Ich hole mit dem Arm aus, mache eine weite Geste und zeige auf den Louvre, der gleich neben dem Kaufhaus Printemps steht, das wiederum ans Musee d'Orsay angrenzt. »Das hier ist nicht Paris. Das hier ist eine Art aufgeblasene Disney-Version von Paris. Als hätte man einen Stapel Reiseprospekte und Postkarten von der Stadt genommen, sie mit ein paar Szenen aus diesem putzigen Zeichentrickfilm Ratatouilk vermischt und dann das hier daraus gemacht. Ich meine, hast du den Kellner gesehen? Ist dir aufgefallen, wie sein Tablett andauernd ins Wackeln und Kippen kam, ohne einmal runterzufallen? Ich glaube nicht, dass es im echten Paris solche Kellner gibt.«
Doch obwohl ich mich hier aufführe wie die schlimmste Spaßbremse aller Zeiten, lacht Ava bloß. Sie wirft sich das rotbraune Haar über die Schulter und sagt: »Also, nur zu deiner Information, ich habe es genau so in Erinnerung. Vielleicht haben die Sehenswürdigkeiten nicht alle in Reih und Glied nebeneinandergestanden wie hier, aber so ist es doch viel schöner. Ich habe an der Sorbonne studiert, weißt du. Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie ich damals ...«
»Super, Ava. Echt toll«, sage ich. »Ich würde wirklich gern davon hören, wenn mir nicht langsam die Zeit ausginge. Also, was ich dich eigentlich fragen wollte, ist, was du über Astrologie oder Astronomie weißt oder welche Wissenschaft auch immer sich mit den verschiedenen Mondphasen beschäftigt.«
Sie bricht ein Stückchen Baguette ab und buttert es, ehe sie fragt: »Kannst du das ein bisschen präzisieren?«
Ich ziehe den gefalteten Zettel heraus, den ich nach meiner Vision vollgekritzelt habe, und schiele zu ihr hinüber. »Okay, was genau ist ein Neumond, und wann kommt er vor?«
Sie pustet auf ihren Kaffee, ehe sie aufsieht und mir antwortet. »Ein Neumond tritt auf, wenn Sonne und Mond an gleicher Stelle stehen - also, wenn sie, von der Erdoberfläche aus betrachtet, beide den gleichen Platz am Himmel einzunehmen scheinen. Deswegen reflektiert der Mond das Licht der Sonne nicht, was außerdem bedeutet, dass man ihn nicht sehen kann, da seine dunkle Seite zur Erde zeigt.«
»Aber was bedeutet das? Ist es ein Symbol für irgendwas?«
Sie nickt und bricht noch ein Stück Baguette ab. »Es ist ein Symbol für einen Neubeginn. Du weißt schon, Verjüngung, Erneuerung, Hoffnung - solche Sachen. Es ist auch eine gute Zeit, um Veränderungen vorzunehmen, schlechte Gewohnheiten aufzugeben oder auch schlechte Beziehungen.« Sie wirft mir einen bezeichnenden Blick zu.
Doch ich lasse mich nicht beirren, da ich weiß, dass sie auf Damen und mich anspielt, ohne zu ahnen, dass ich die Beziehung nicht nur beenden, sondern regelrecht löschen will. Denn sosehr ich ihn auch liebe, so wenig ich mir eine Zukunft ohne ihn vorstellen kann, glaube ich trotzdem, dass es so für alle am besten ist. Nichts von alledem hätte jemals passieren dürfen. Wir hätten nie passieren dürfen. Es ist unnatürlich und falsch, und jetzt ist es meine Aufgabe, alles wieder rückgängig zu machen.
»Und wann passiert das im Verhältnis zum Vollmond?«, frage ich und sehe zu, wie sie sich beim Kauen eine Hand vor den Mund hält.
»Der Vollmond tritt etwa zwei Wochen nach dem Neumond ein. Zu dem Zeitpunkt reflektiert der Mond die maximale Lichtmenge von der Sonne, die ihn von der Erde aus voll aussehen lässt. Dabei ist er in Wirklichkeit ja immer voll, da er schließlich nicht irgendwohin verschwindet. Ach, und was die Symbolik angeht? Das wolltest du doch wissen, oder?« Sie lächelt. »Der Vollmond steht für Überfluss, Fülle, eine Art Reifen aller Dinge zur Blüte ihrer Kräfte. Und da die Mondenergie zu diesem Zeitpunkt am stärksten ist, ist sie auch voller Zauberkraft.«
Ich nicke und versuche, alles zu verdauen, was sie gerade gesagt hat, und bekomme allmählich eine leise Ahnung davon, warum diese Phasen für meinen Plan so wichtig sind.
»Alle Mondphasen symbolisieren irgendetwas«, fährt Ava achselzuckend fort. »Der Mond spielt eine wichtige Rolle im althergebrachten Wissen, und er kontrolliert die Gezeiten. Und da unsere Körper zum größten Teil aus Wasser bestehen, meinen manche, dass er auch uns kontrolliert. Deshalb nennt man ja zum Beispiel Schlafwandler auch mondsüchtig. Ach, und denk an die Werwolflegende - da dreht sich doch auch alles um den Vollmond!«
Ich rolle innerlich die Augen. Es gibt weder Werwölfe noch Vampire noch Dämonen - nur Unsterbliche und bösartig gewordene Unsterbliche, die entschlossen sind, Erstere zu töten.
»Darf ich fragen, warum du das alles wissen willst?«, sagt sie, trinkt ihren Espresso aus und schiebt die Tasse beiseite.
»Gleich«, erwidere ich abgehackt und barsch, wesentlich weniger beiläufig als sie. Doch im Gegensatz zu ihr mache ich nicht Urlaub in Paris, sondern nehme den Anblick nur hin, um die Antworten zu bekommen, die ich brauche. »Eine letzte Frage noch: Was ist denn so besonders an einem Vollmond in der heure bleue oder der blauen Stunde, wie man so sagt?«
Sie sieht mich mit aufgerissenen Augen an und sagt mit atemloser Stimme: »Du meinst den blauen Mond?«
Ich zucke die Achseln und muss daran denken, dass der Mond auf dem Bild so blau war, dass er praktisch mit dem Himmel verschmolz. Dann stelle ich mir vor, dass er wohl ein Symbol für einen richtigen blauen Mond sein sollte, nachdem seine Farbe so pulsiert und geschimmert hat. »Ja«, sage ich. »Aber der blaue Mond speziell während der blauen Stunde - was weißt du darüber?«
Sie holt tief Luft und blickt in die Ferne, ehe sie antwortet. »Normalerweise sagt man, dass der zweite Vollmond innerhalb eines Kalendermonats ein blauer Mond ist. Doch es gibt noch eine andere, esoterischere Denkschule, die sagt, dass man nur dann von einem echten blauen Mond sprechen kann, wenn zwei Vollmonde nicht unbedingt im selben Monat, sondern innerhalb desselben Tierkreiszeichens vorkommen. Dies gilt als ein sehr heiliger Tag, ein Tag, an dem die Verbindung zwischen den Dimensionen besonders stark ist. Deshalb ist das der ideale Zeitpunkt für Meditation, Gebet und mystische Reisen. Es heißt, wenn man die Energie eines blauen Mondes während der heure bleue anzapft, dann können alle möglichen magischen Dinge geschehen. Die einzigen Grenzen sind wie immer deine eigenen.«
Sie sieht mich fragend an und will wissen, was ich vorhabe, aber ich bin noch nicht dazu bereit, es ihr anzuvertrauen. Schließlich schüttelt sie den Kopf und sagt: »Aber nur damit du es weißt: Ein echter blauer Mond ist sehr selten, den gibt es nur alle drei bis fünf Jahre.«
Mein Magen verkrampft sich, während ich mit den Händen die Sitzfläche des Stuhls umklammere. »Und weißt du, wann der nächste blaue Mond sein wird?« Dabei denke ich: Bitte lass es bald sein, bitte lass es bald sein!
Ich muss mich beinahe übergeben und kippe fast vom Stuhl, als sie den Kopf schüttelt und sagt: »Ich habe keine Ahnung.«
Ja, natürlich! Das, was ich unbedingt wissen muss, ist ausgerechnet das, was sie nicht weiß.
»Aber ich weiß, wie wir es herausfinden können.« Sie schmunzelt.
Gerade als ich sie darüber informieren will, dass mir meines Wissens soeben der Zugang zur Akasha-Chronik gesperrt wurde, schließt sie die Augen und kurz darauf erscheint ein silberner iMac.
»Lust zu googeln?« Sie lacht und schiebt mir den iMac herüber.